Sie betrat den Zug und setzte sich in den oberen Teil des Wagens, der um diese Uhrzeit doch noch recht gut gefüllt war. Das Buch, das sie dabei hatte, wollte sie jetzt nicht weiterlesen. Irgendwie kam sie nicht richtig in die Geschichte rein. Eine Chance von 20 Seiten sollte der Roman noch bekommen, mehr auf keinen Fall. Sie kramte in ihrer Tasche um stattdessen ihren MP3-Player herauszuholen. Gerade als sie nach einer halben Ewigkeit das Kabelgewirr der Kopfhörer entworren hatte, fiel ihr ein, dass die Batterien schon auf dem Hinweg am Morgen ihren Dienst quittiert hatten. Leicht genervt, und verärgert darüber nicht an neue gedacht zu haben, starrte sie in die Richtung des Typen auf der anderen Seite des Ganges. Erst nach einer Weile fiel ihr dessen durchaus als interessiert zu bezeichnenden Blick auf und sie sah, hastiger als es beabsichtigt war, schnell weg und aus dem Fenster hinaus. An was hatte sie gerade gedacht? Etwas verwirrt versuchte sie trotz der Spiegelung etwas in der draußen vorbeirauschenden Dunkelheit zu erkennen – mehr als ein paar vereinzelte Lichter waren dies nicht. Ein letzter mürrischer Gedanke an das zu grelle Licht im Abteil – dann kam der Gedanke von eben zurück. Sie hatte ihn heute Abend wieder daran erinnert: ein Buch wollte er irgendwann einmal schreiben. Ihm fiel es wieder ein. Diese Idee spukte in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder durch seinen Kopf. Heute dachte er an seine kürzliche Idee einen Roman aus ihrer Perspektive zu schreiben. Warum? Warum diese Gedanken an Dinge, von denen er meint, dass sie irgendwie gemacht werden müssen? War das etwa sein Problem zum Ende hin? Vielleicht ein Teil des Problems. Wie oft hatte sie sich z.B. das Gejammer über die Sache mit dem Ausland anhören müssen. Sie hatte es zum Schluss nicht mehr hören können und war jedes Mal schon im Voraus in der Lage zu erahnen, wann dieses Thema wieder aufkommen würde. Dieses Selbstmitleid, in dem er es genoss sich zu winden – so schien es wenigstens. Und immer versuchte sie ihn aufzubauen. Wo war diese Anfälligkeit für Melancholie heute? Einen kurzen Moment lang dachte sie, dass sie ihn wieder dazu gebracht hätte. Zu diesem Grübeln, diesem versonnenen Schweigen. Natürlich hatte sie zuviel geredet. Aber was heißt „zuviel“? Er hatte ja selbst das Thema angesprochen und sie sagte einfach, was sie dachte und fühlte. Das war nicht geplant. Sie setzte sich ja nicht einen Tag vorher hin und schrieb sich ein Konzept für ein mögliches Gespräch, das so womöglich gar nicht stattfinden würde. So natürlich nicht. Aber so ähnlich. Ja, das hatte sie schon irgendwie vermutet. Aber sein Schweigen war heute irgendwie anders. Da war weniger Stirnrunzeln, weniger Seufzen und keine herabhängenden Schultern. Überhaupt, er wirkte irgendwie verändert. Das merkte sie schon als er über die Straße ging und die letzten Schritte auf sie zukam. Sie sah ihn schon vorher und aus einem unbestimmten Grund fing sie an irgendetwas, von dem sie selber nicht wusste, was es sein sollte, in ihrer Tasche zu suchen, bis er vor ihr stand. Es war irgendwie alles: Bis vor Kurzem hätte er sich nie so gekleidet; er war locker; er lachte. Vielleicht eine Spur zu locker? Wirkte es nicht etwas zu von sich selbst eingenommen, zu überheblich, so wie er sich gab? Oder war dieser Gedanke nun doch nicht gerecht?
Der Zug fuhr an und eine Gruppe von Jugendlichen kam die Stufen zum Abteil herauf. Fünf Jungs, alle ungefähr sechzehn oder siebzehn. Wie er wohl in diesem Alter war? Hätte sie sich damals für ihn interessieren können? Nach dem, was er aus dieser Zeit erzählte wohl eher nicht. Naja, wer weiß.
So offen hatten sie jedenfalls schon lange nicht mehr miteinander geredet, und das war es, was sie freute. Sie freute, dass er trotz ihrer vielen ehrlichen Worte nicht geknickt und grüblerisch schien, sondern gefasst und aufgeschlossen gegenüber dem, was sie über ihn und die Zeit sagte. Natürlich braucht es noch ein bisschen, aber heute waren sie mehr als einen Schritt weitergekommen.
Ein Kronkorken, der sie am Kopf traf, riss sie aus ihren Gedanken – gerade rechtzeitig, denn gleich war sie am Ziel. Vier der Jungs lachten und kicherten, einer sah sie verstohlen an und wurde knallrot, als sie ihren Blick erwiderte.
Sie nahm ihre Tasche und trat in die frische Sommernacht.
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Dienstag, 18. August 2009
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1 Kommentar:
Zufrieden saß er vor seinem ibook. Es war vollbracht. Er hatte endlich damit begonnen, etwas zu schreiben – echte Literatur, nicht „nur“ die amüsanten und interessanten kurzen Texte, mit denen er sein Blog-Publikum sonst so unterhielt.
Es war ein beeindruckender Abend gewesen. Sie hatte ihm viel zu sagen. Er ihr auch. Wenn es ihm nur nicht immer so schwer fiele, seine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Warum musste sie mit Wörtern aber auch so unheimlich effektiv sein? Und immer musste sie den Nagel auf den Kopf treffen – das war ganz schön anstrengend. Irgendwie aber auch faszinierend.
Es war ein Abend gewesen, an den er sich bestimmt noch lange erinnern würde: Das lange, offene Gespräch, die Unbefangenheit, die auf einmal wieder zwischen ihnen zu herrschen schien, ihr Humor. Auch sie hatte sich verändert und war mehr im Reinen mit sich selbst. Das konnte er spüren.
Sie hatte gesagt, dass sie seinen Blog noch liest. Er fragte sich, ob sie auch diese Geschichte lesen würde, ob sie darauf reagieren würde. Hatte er sie gut getroffen? Konnte er genauso in sie hinein sehen, wie sie in ihn? Was würde sie zu seiner Geschichte sagen?
Und dann, viel früher als erwartet, die Benachrichtigung: anonym commented on your blog... Erwartungsvoll logte er sich ein, um ihren Kommentar zu lesen.
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