Gedanken, Kommentare, Meinungen zu Aktuellem & Vergangenem oder einfach nur etwas, was wert sein könnte von aller Welt gelesen werden zu können.

Donnerstag, 22. September 2011

Mein literarischer Sommer

Eigentlich war es Zufall. Kein reiner oder purer, sondern ganz normaler (was ist eigentlich der Unterschied? Ob der Begriff "reiner" bzw. "purer" Zufall evtl. auf die angeblich unbefleckte Empfängnis zurückgeht?)!
Jedenfalls ging ich an einem heißen Sommertag mal wieder erfolgreich mit vier Büchern aus dem Oxfam-Buchladen und stellte nach ein paar Tagen begeistert fest, dass zwei davon sich im Prinzip ziemlich ähneln. Nämlich "Fleich ist nicht mein Gemüse. Eine Landjugend mit Musik" von "Heinz Strunk" und "Der BFC war schuld am Mauerbau. Ein stolzer Sohn des Proletariats erzählt" von "Andreas Gläser". Beim Kauf war mir das wirklich nicht bewusst, umso mehr die Freude einige Tage später.
Im Prinzip sind beide Bücher autobiographische Rückblicke auf die 80er- und 90er Jahre von zwei fast gleichaltrigen Autoren (Strunk geboren 1962, Gläser 1965). Das Interessante ist allerdings, dass Strunk eine westdeutsche Perspektive, Gläser dagegen eine ostdeutsche einnimmt. Zu den beiden Büchern gleich mehr.
Wenige Wochen später beim nächsten Besuch des - übrigens sehr zu empfehlenden - Buchladens sah ich zwei weitere Bücher, die thematisch durchaus zu den beiden erstgenannten zu passen schienen: "Livealbum" von "Benjamin von Stuckrad-Barre" sowie "Russendisko" von "Wjadimir Kaminer".
Damit war mein literarischer Sommer klar umrissen. Ich war sehr gespannt auf diese vier Bücher, die zum Teil die Zeit meiner eigenen Kindheit und Jugendzeit aus ihren ganz eigenen Perspektiven zum Thema hatten.

Die höchste Identifikation konnte ich gleich mit dem Buch von Heinz Strunk aufbringen, und zwar deshalb, da der Fokus seiner Erzählung - die Erlebnisse, die er als Anfang Zwanzigjähriger in einer Tanzkapelle im Hinterland von Harburg machte - mich doch teilweise an meine Erfahrungen bei Auftritten des Musikvereins auf Dorffesten erinnerten. Von außen betrachtet eine Spur lachhaft (vor allem, wenn man es so beschreibt wie Strunk), aber zum Zeitpunkt des Erlebens doch vor allem spaßig! Strunk schreibt meistens herrlich ironisch und macht dabei vor sich selbst und seiner Rolle in dieser Zeit keinen Halt. Von der Fokussierung auf die Tanzkapelle abgesehen präsentiert das Buch einen herrlichen Blick auf ein ziemlich typisches (westdeutsches) kleinstädtisches Leben in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts (oh Mann, wie klingt das nach einer Amazon-Buchbeschreibung!!).
Interessant wird dieser Blick wirklich im Vergleich mit dem Buch von Andreas Gläser, "Der BFC war schuld am Mauerbau". Hier bedarf es evtl. die ein oder andere Erklärung. Der "BFC" ist der Berliner Fußballverein "BFC Dynamo Berlin", der unter Fußballfans eigentlich nur als "Stasi- bzw. Mielke-Verein" bekannt ist, da er sehr lange von Erich Mielke, dem Leiter der Staatssicherheit so gefördert wurde, dass die Meisterschaft nur noch reine Formsache war. Der Titel, den Gläser gewählt hat, gibt allerdings schon die Richtung des Buches vor: Blanke, teilweise provozierende Ironie! Denn wie der geneigte Guido-Knopp-Fernseh-Historiker bzw. die geneigte Guido-Knopp-Fernseh-Historikerin weiß, ist die Mauer im Jahre 1961 erbaut, der BFC aber erst im Jahre 1966 gegründet worden!
So kokettiert Gläser in seinen autobiographischen Geschichten, die nicht so chronologisch zusammenhängend erzählt werden wie bei Strunk, immer wieder mit diesem Stempel, der dem Club aufgedrückt wird ebenso wie mit seiner ostdeutschen Herkunft im wiedervereinigten Berlin. Das Buch wirkt irgendwie deutlich böser und direkter -ich hatte das Gefühl, dass Gläser bewusst viele literarische Schläge in die Fresse ansetzt.

Das dritte Buch in meiner persönlichen Lesereihe war "Livealbum" von Stuckrad-Barre, von dem evtl. das Buch "Soloalbum" bekannt ist (oder zumindest die Verfilmung). Mit ihm verbinde ich die ein oder andere schemenhafte Erinnerung an Fernsehauftritte, die er um die Jahrtausendwende aufgrund seiner plötzlichen Popularität bestritt, und in denen er mir mit meiner damaligen noch vorhandenen kulturellen Leichtgläubigkeit ziemlich unsympathisch war. In "Livealbum" schreibt er von den Erlenissen auf seiner ersten Lesereise, was für mich kurz gesagt unglaublich amüsant war. Stuckrad-Barre schreibt über sich als im Showbusiness unerfahrenen aber in ihm auf jeden Fall triumphieren wollenden jungen Autor, der einerseits die Regeln einhalten, aber gleichzeitig auf sie scheißen will.

Zum Schluss "Russendisco" von Wladimir Kaminer, der hier - ebenfalls autobiographisch - änhlich wie Gläser verschiedene Episoden seines Lebens als russich-jüdischer Emigrant in Berlin von der Wendezeit bis ins neue Jahrtausend schreibt. Ich weiß nicht, ob ich dieses Buch als das schwächste der vier empfinde, weil es sprachlich ganz puristisch daherkommt, weil ich mich in dem Geschilderten am wenigsten wiederfinden kann oder weil die kurzen Erlebnisse und Anekdoten meist etwas langweilig sind.

Ich denke, dass jede(r) irgendwann einmal mehr oder weniger heftig dem gedanken nachhängt, dass man doch gern ein paar Jahre früher geboren wäre, um dieses historische Ereignis oder jene gesellschaftliche Entwicklung bewusster mitbekommen zu haben (gut, die Generation meiner Eltern definitiv nicht!). Mir geht es so mit dem Mauerfall und allen dazugehörigen Entwicklungen. Eines haben vor allem die ersten beiden Bücher bewirkt: Die Gewissheit, dass damals nicht alle Deutschen in der Nacht vom 9. November 1989 auf der mauer tanzten und dass die Empfindungen der Kindheit und der Jugendzeit im Prinzip doch immer relativ gleich sind - egal in welchem Jahrzehnt.