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Samstag, 25. September 2010

Absturz

Sie hatte großes Glück, denn es hätte noch alles viel schlimmer sein können! In dieser Jahreszeit, da sich Sonne, Regen und Nebel einen für alle spür- und sichtbaren Kampf um die Vorherrschaft über das Wetter liefern, und die Temperaturen mal auf die schöne, mal auf die triste Seite der Wetterfront wechseln, hatte sie das Glück, dass der Spätsommer alles in ein warmes Licht zu tauchen vermochte. Nur nachts wurde es dafür schon bitterkalt. Und von dem Vorzug einer kalten, aber dafür klaren Nacht – das Spektakel der blinkenden Sterne – hatte sie rein gar nichts, denn: sie war verschüttet. Sie konnte sich keinen Zentimeter rühren, wobei sie nicht genau wusste, ob sie das überhaupt jemals wieder werde tun können. Sie konnte sich genau erinnern, wie sie in diese Lage kam: Eigentlich hatte sie schon die ganze Zeit damit gerechnet, nur richtig vorstellen konnte sie es sich dann doch nicht. Der Abgrund unter ihr war zwar die ganze Zeit präsent (wie lange, konnte sie allerdings gar nicht so genau sagen – vielleicht ein paar Wochen?), doch irgendwie fühlte sie sich beschützt. Es konnte doch eigentlich gar nichts passieren! Doch eines Tages fing es an. Da bekam sie den ersten Sturz mit. Nicht direkt, sie erfuhr es über mehrere Ecken, doch dafür in einer Windeseile.
„Hast Du es auch schon gehört?“
„Nein, was denn?“
„Es ist tatsächlich passiert, eine von uns ist abgestürzt. Die große, etwas rundliche, auf der Südseite. Sie war wohl uns anderen ziemlich voraus, und dann – mit einem Schlag war sie unten.“
Sie wuststen alle, dass es irgendwann einmal so kommen musste. Doch in diesem Augenblick, war die Erkenntnis, dass es Gewissheit sein würde, einfach unglaublich.
Plötzlich begann sie heftig zu zittern. Völlig unkontrolliert, sodass rings um sie herum ein Raunen durch die Reihen ging. Doch sie konnte sich noch einmal zusammenreißen und das Zittern ließ ganz langsam, aber stetig, nach.
So ging es Woche um Woche. Immer wieder hörte man von Abstürzen und schließlich erlebte sie selbst einen mit eigenen Augen. Es war ein schrecklicher Augenblick, der sich einige Stunden lang nicht mehr aus ihren Gedanken vertreiben ließ. Mir wird es irgendwann auch noch so ergehen, dachte sie. Es muss ja irgendwann so kommen. Sie hatte Angst. Alle hatten Angst. Man erzählte sich zwar die ein oder andere phantastische Geschichte, doch die klangen so unwirklich, dass sie ihnen irgendwann keine Aufmerksamkeit mehr widmete. Sie versuchte nur, sich mit dem Möglichen auseinanderzusetzen und ihre Angst irgendwie zu bezwingen.
Doch eines morgens war es soweit. Es geschah in einem Augenblick, in dem sie es gerade für einige Zeit geschafft hatte, den Gedanken des Absturzes zu verdrängen. Ein Zucken durchfuhr sie, und bevor sie das Fallen in die Tiefe realisierte, schlug sie mit einem dumpfen, lauter als sie es erwartet hätte, Schlag auf den feuchten Boden. Ohne, dass sie was dagegen tun konnte – wahrscheinlich der Schock, rollte sie noch einige Meter weiter, und blieb schließlich verschüttet liegen. Wie lange sie dort lag? Sie wusste es nicht. Sie hatte kein Zeitgefühl, hoffte einfach nur, dass sie irgendwann jemand fand, was jedoch ziemlich aussichtslos erschien. Eine Art Schlummer übermannte sie und zog sie in eine Art Traumwelt, die ihr bis dahin noch völlig unbekannt war. Aus dieser wurde sie irgendwann mir einem heftigen Schlag herausgerissen. Ohne zu wissen, was genau geschah, wurde sie herumgewirbelt, drehte sich einige Male um sich selbst, und blieb schließlich auf einem harten, steinigen Untergrund liegen. Sie blinzelte in die helle Sonne und war dankbar für die wärmenden Strahlen, die ihre noch feuchte Haut langsam trocknen würde. Als sie langsam zu realisieren begann, wo sie überhaupt war, geschah genau das, was in den Geschichten, denen sie irgendwann kein Gehör mehr schenkte, zu Anfang erzählt wurde. Ohne genau zu wissen, wie dies möglich war, wurde sie von einer unglaublichen Kraft nach, in Richtung der noch eben bewunderten und inzwischen ganz tief stehenden Sonne gehoben. Ein unbeschreibliches Gefühl erfasste ihren kompletten Körper, und als eine zarte, trockene Haut sie, die von Tau und Sonne überall glänzte, ganz umschloss, wusste sie, dass sie ihren Platz gefunden hatte.


Wie jedes Jahr, ist die erste gefundene Kastanie ein wunderbarer Beginn des Herbstes!